Aus dem Tätigkeitsbericht 2003 der neun staatlichen Schulberatungsstellen Bayerns:

 

 

Ursula Häußler, Georg Mayr

Integration Jugendlicher aus dem Ausland

 

I.     Beratungssituation im Schuljahr 2001/2002 in Mittelfranken

An der staatlichen Schulberatungsstelle für Mittelfranken wurden im Schuljahr 2001/2002 von der Leiterin ca. 100 persönliche Beratungen für Ratsuchende durchgeführt, die aus dem Ausland zugezogen waren. Dies entspricht gut 40% aller Beratungen. Etwa 90% davon waren fremder Nationalität oder Spätaussiedler, bei 10% handelte es sich um deutsche Rückkehrer, deren Kinder Schulen im Ausland besucht hatten. Ingesamt waren 29 Nationalitäten vertreten. Die Hälfte der Ratsuchenden waren Kontingentflüchtlinge (jüdischen Glaubens) aus Russland und der Ukraine. Dazu kamen einige aus anderen ehemaligen GUS-Staaten. Die Zahl der Spätaussiedler aus Kasachstan, die bislang zu beraten waren, ist stark zurückgegangen. Bei den Ratsuchenden aus dem Irak und China handelt es sich meist um ältere Jugendliche. Sie befinden sich aus unterschiedlichen Gründen in besonders schwieriger Situation.

II.   Probleme der ratsuchenden Eltern

Mit welchen Problemen man bei der „Ausländer-Beratung“ konfrontiert ist, sei am Beispiel der Kontingentflüchtlinge gezeigt:

1.  Sprachbarrieren

Die Eltern haben oft ein hohes Bildungsniveau, es handelt sich vielfach um Akademiker und Künstler, sie können sich aber meist nur mühsam deutsch verständigen, so dass sich die Kommunikation – manchmal mit Hilfe dolmetschender Bekannter – langwierig und schwierig gestaltet.

2.  Die Kinder als Hoffungsträger

Da sie mit ihren geringen Sprachkenntnissen (der sechsmonatige Sprachkurs reicht nicht aus) auf ihrem intellektuellen Niveau nicht kommunizieren können und oft auch beruflich keine adäquaten Perspektiven haben, gilt ihr ganzes Bemühen dem Auf- stieg ihrer Kinder. Dieser erscheint ihnen nur durch das Gymnasium gewährleistet. 

Die Kinder haben oft besondere Schulen besucht (z. B. mit Englisch bereits in der Grundstufe), viele erweisen sich als sehr begabt und fleißig, sind wohl auch „brav“ und angepasster erzogen. Wegen der mangelnden Sprachkenntnisse geraten sie in die Volksschule, die sie gern „überspringen“ möchten. Bei manchen steht wegen eines Umzugs aus einem anderen Bundesland oder innerhalb Bayerns oft zu ungünstiger Zeit ein Schulwechsel an. Schulpflichtige Kinder werden im Ballungsgebiet Nürnberg-Fürth-Erlangen in eigene Eingliederungsklassen (Ü- = Übergangsklassen) an der Volksschule, wo sie Deutsch lernen, eingewiesen. Diese Maßnahmen zum Erwerb der nötigen Sprachkenntnisse sind wenig beliebt und haben zweifellos Nachteile: Zum einen finden die Eltern, dass z. B. in Mathematik zu wenig gelernt wird. Englisch wird auf diesem Niveau in der Regel nicht unterrichtet, die Kinder vergessen, was sie früher gelernt haben.

Das Hauptargument lautet: In diesen Klassen ist derzeit der größte Teil russischsprachig, so dass die Schüler durch den Umgang mit anderen so gut wie keine Übung in der gesprochenen Sprache haben. Außerdem sitzen oft mehrere Altersgruppen in einer Klasse, hoch begabte neben durchschnittlichen und schwachen Schülern. Deshalb ist es das Ziel der Eltern, möglichst schnell den Übertritt ihrer Kinder in ein Gymnasium zu bewerkstelligen.

Durch das (langsame) Erlernen der deutschen Sprache in den genannten Eingliederungsklassen geht zwangsläufig Zeit „verloren“. Manche Schüler treten, durch verschiedene Umstände bedingt, sprichwörtlich auf der Stelle und besuchen die gleiche Jahrgangsstufe zum dritten Mal! Dies ist der Motivation nicht gerade förderlich.

Dazu kommt, dass der „Gastschülerstatus“ nur innerhalb einer begrenzten Zeit nach der Einreise gewährt wird. Fast alle ausländischen Eltern unterschätzen die Bedeutung sprachlicher Kompetenz für alle Fächer des Gymnasiums und beharren darauf, dass ihre fleißigen und begabten Kinder es schaffen werden. Viele Kinder sind aber aufgrund ihren sprachlichen Möglichkeiten damit völlig überfordert, vor allem wenn ihnen noch eine weitere Fremdsprache zugemutet wird, und oft auch frustriert, wenn der Fleiß und die Mühen unbelohnt bleiben und sie dem Unverständnis ihrer Eltern gegenüberstehen.

Bei Eintritt ab der 8. Jahrgangsstufe wird zwar in der Regel der Ersatz der 2. Fremdsprache durch die Muttersprache (z. B. Russisch) genehmigt (auch eine erklärungsbedürftige Maßnahme), jedoch sind in höheren Klassen die sprachlichen Anforderungen besonders in Englisch und in der Aufsatzlehre bereits sehr anspruchsvoll. Dies ist den Ratsuchenden – offensichtlich mangels Erfahrung – schwer zu vermitteln.

Ein Teil der Beratungsfälle bezieht sich auf Schüler, die den Gastschülerstatus am Gymnasium oder der Realschule erfolglos beenden müssen. Die Enttäuschung ist dann meist riesengroß.

3. Unkenntnis des Schulsystems und der beruflichen Bildung

Die Eltern kennen das differenzierte Schulsystem und die Durchlässigkeiten nicht, jeder Wechsel bedeutet für sie Abstieg. Auch wenn das Scheitern absehbar ist oder die Beendigung des Schulbesuchs zur Folge hatte, glauben sie immer noch an eine Lösung in ihrem Sinne. Sie misstrauen den schulischen Aussagen und versuchen um den Verbleib ihrer Kinder am Gymnasium zu kämpfen. Sie wissen nicht, was eine Schulordnung beinhaltet, hören aber oft aus dem Bekanntenkreis von irgendeinem Fall, den sie als Argument anführen wollen. Manchmal kennen sie auch ihre Rechte nicht (z.B. freiwilliger Schulbesuch in der 9. Klasse Hauptschule). Die Profile der Realschule, Fachoberschule und die Studienmöglichkeiten an Fachhochschulen müssen in der Beratung ganz neu erklärt werden. Die Bedeutung anderer Abschlüsse als der Hochschulreife ist ihnen unklar, ebenso das System der beruflichen Bildung und der zweite Bildungsweg.

Aus den kurz dargestellten Gründen lässt sich erahnen, wie mühsam und aufwendig sich die Beratung der genannten Gruppe gestalten kann. Sie ist auch menschlich schwierig, denn es spielen existentielle Hoffnungen und Erwartungen und, weil der Überblick fehlt, ein gewisses Unterlegenheitsgefühl mit. Andererseits zeigen sich viele dankbar für die Mühe, die man sich macht, z. B. wenn man Telefonate für sie führt, und bedanken sich überschwänglich für die Beratung. Diese umfasst neben dem Beratungsgespräch häufig Kontaktaufnahme mit Schulleitungen oder verschiedenen Institutionen.   

III.    Die Probleme von Jugendlichen

Als sehr schwierig stellt sich die Situation von Jugendlichen dar, die im Alter von 16–18 Jahren ohne oder mit geringen Sprachkenntnissen einreisen. Sofern sie Aussiedler, Kontingentflüchtlinge oder Asylberechtigte sind, können sie, wenn sie ihre Vollzeitschulpflicht (9 Jahre) erfüllt haben, einen Integrationssprachkurs besuchen, der aus dem Garantiefonds finanziert und von verschiedenen Einrichtungen durchgeführt wird, in Nürnberg vom DEB (Deutsches Erwachsenenbildungswerk). Aussiedler und Kontingentflüchtlinge haben dabei die gleichen Vorbehalte, wie sie gegen Ü-Klassen bestehen, sie wollen nicht mit lauter „Russen“ zusammen sein. Dies fördere ihre Sprechfertigkeit verständlicherweise nicht. Am Ende eines Jahreslehrgangs ist es bei entsprechenden Kenntnissen möglich, den qualifizierenden Hauptschulabschluss zu erwerben. Doch der qualifizierende Hauptschulabschluss, der früher bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz ein Wert an sich war, ist es bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation nur noch begrenzt; dabei haben die Mädchen noch weniger Chancen als die Jungen. Die Voraussetzungen für den Eintritt in die M10 der Hauptschule (ohne Altersgrenze) liegen sehr hoch, nur wenige schaffen dies.

Da die Altersgrenzen und erzielten Leistungen (Hauptschulstoff, oft noch mangelnde sprachliche Gewandtheit) einen Eintritt in höhere Jahrgangsstufen weiterführender Schulen in der Regel ausschließen, landen diese Jugendlichen teilweise in Überbrückungsmaßnahmen des Arbeitsamtes oder im BVJ, das sie meist nicht weiter bringt. Kein Wunder, dass mangels an Perspektiven ihr Selbstwertgefühl erschüttert wird und auch im Sozialverhalten Probleme auftreten können.

Die jungen Leute, die in die Beratung kommen, sind in der Regel sehr interessiert an Erläuterungen zum (Aus-)Bildungssystem und zum Erwerb von Abschlüssen. Es erscheint wichtig, dass sie an einer Stelle wie der staatlichen Schulberatung kompetente und regional informierte Fachkräfte als Ansprechpartner finden.

IV.  Das „Augsburger Modell“: Übergangs- und Eingliederungsklassen zur Förderung besonders begabter Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache nach § 11 und 12 VSO

1.  Durch den vermehrten Zuzug von ausländischen Schülern und Kindern von Aussiedlern seit Mitte der 80er Jahre verschärfte sich auch in Schwaben die Situation in der Beratung, da gerade Akademikerfamilien für ihre Kinder unbedingt eine Aufnahme in eine Realschule bzw. in ein Gymnasium erreichen wollten.

Durch verschiedene Initiativen und Kontakte wurde ab dem Schuljahr 1996/97 eine „Modellklasse für besonders begabte Schüler“ in Augsburg eingerichtet. Diese Schüler sollten nach einer intensiven Förderung in der deutschen Sprache, aber auch in Eng- lisch und Mathematik, spätestens nach einem Jahr über ein „Gastschulverhältnis“ nach RSO §6 und GSO § 5 an eine weiterführende Schule übertreten können (d.h. in der Regel nach einem halben Jahr Aufnahmeprüfung und anschließend ein halbes Jahr Probezeit). 

2.  Um eine weitgehende Gleichbehandlung aller übertrittsfähigen Schüler zu erreichen, wird die staatliche Schulberatung für Schwaben zwischengeschaltet. Auf der Grundlage eines pädagogischen Gutachtens der abgebenden Schule versuchen mehrere Teams von Lehrern an Realschulen und Gymnasien, die von der Beratungsstelle organisiert werden, in Gesprächen und mit kurzen Tests bei den übertrittswilligen Schülern festzustellen, für welche Schulart und Jahrgangsstufe die jeweiligen Kenntnisse ausreichen. Dabei wird auch überprüft, ob eine Fremdsprachensonderregelung erforderlich und möglich ist. Die Schulberatungsstelle und die Lehrkräfte der Übergangsklassen bemühen sich nach einer zusammenfassenden Beurteilung und Beratung um eine Aufnahme in die als geeignet erscheinenden Schulen.

3.  Die bisherigen Erfahrungen zeigen (inzwischen gibt es vier Übergangsklassen in Augsburg), dass zum Halbjahr und zum Schuljahresende pro Jahr durchschnittlich zwischen 20 und 30 Schüler an Realschulen und Gymnasien übertreten. Die aufnehmenden Schulen erhalten zur Information das Gutachten der abgebenden Schule und die Beratungsempfehlung der staatlichen Schulberatungsstelle. Auf dieser Grundlage entscheidet der Schulleiter der angestrebten Schule eigenverantwortlich über die Aufnahme.

Durch die intensive Beratung konnte erreicht werden, dass fast alle überprüften Schüler den Übertritt und die damit verbundenen Prüfungen erfolgreich bewältigt haben. Dieser Erfolg wäre bei einem zu frühen Einstieg und ohne die gezielte Förderung in den Modellklassen nicht möglich. 

V.   Besondere Eingangsklassen am Gymnasium in Nürnberg

In Nürnberg werden schon seit mehr als 2 Jahrzehnten besondere Eingangsklassen gebildet. Sie sind bis zu einem Drittel mit ausländischen Kindern besetzt. Diese erhalten in der 5. Jahrgangsstufe getrennt von ihren deutschen Mitschülern im Fach Deutsch einen eigenständigen Unterricht, der sie sprachlich besonders fördern soll; in der Jahrgangsstufe 6 nehmen die Schüler im Fach Deutsch am Unterricht der deutschen Schüler teil, erhalten aber darüber hinaus noch einen zusätzlichen Förderunterricht. Ab der 7. Jahrgangsstufe besuchen sie nur noch denselben Unterricht wie die deutschen Schüler, erfahren aber bei der Bewertung ihrer Leistungen noch eine gewisse Rücksichtnahme.

Bis vor wenigen Jahren wurde eine solche besondere Eingangsklasse für ausländische Kinder auch für die 7. Jahrgangsstufe der vierstufigen Realschule angeboten, doch hat man dieses Modell (aus Kostengründen) leider eingestellt.